Wie man im 16. Jahrhundert die Melancholie kurierte
VON PETER HACHENBERG
Nein, ein glücklicher Mensch war er wirklich nicht, dieser Johann Wilhelm. Vom Vater verachtet, von schweren Depressionen geplagt, in zwei Ehen gedrängt, von denen die erste mit dem gewaltsamen Tod der Gattin endete. Man wird es erraten: Die Rede ist nicht vom prächtigen Barockfürsten Johann Wilhelm II. (1658 – 1716), dessen Reiterstandbild vor dem Düsseldorfer Rathaus noch heute jeden Besucher beindruckt.
Wir sprechen von seinem Namensvetter und Urgroßonkel mütterlicherseits, von Johann Wilhelm I. aus dem 16. Jahrhundert, den man vielleicht tatsächlich nur wegen seiner ersten bedauernswerten Ehefrau kennt: Jacobe, die lebenslustige und attraktive Prinzessin von Baden-Baden, die 1597 aller Wahrscheinlichkeit nach erdrosselt im Rundturm des Düsseldorfer Schlosses aufgefunden wurde und da gelegentlich noch herumgeistern soll. 1585 war sie mit eben jenem unglücklichen Johann Wilhelm I. vermählt worden. Wer aber war dieser Mann?
Geboren wurde er am 28. Mai 1562 als zweiter Sohn von Wilhelm V. (reg. 1539 – 1592), genannt „der Reiche“, der sich diesen Beinamen verdiente, weil er in der Tat reich an Ländern war, über die er im 16. Jahrhundert regierte. Die „Vereinigten Herzogtümer Jülich-Kleve-Berg“ mit der Residenz- und Hauptstadt Düsseldorf bildeten in dieser Periode zusammen mit einigen weiteren Gebieten eine Art westeuropäischer Mittelmacht.
Als nachgeborener Sohn – der erstgeborene war bereits mit 19 Jahren an den Pocken verstorben –, war Johann Wilhelm eigentlich nicht erbberechtigt und schlug zunächst eine geistliche Laufbahn ein, was in diesen Zeiten absolut üblich war, denn kirchliche Ämter und Pfründen stellten willkommene Versorgungsinstitute für den männlichen adeligen Nachwuchs dar. Im April 1574, ein paar Wochen vor seinem zwölften Geburtstag, wurde er zum Bischof von Münster gewählt, wobei die Geschäfte natürlich durch Bevollmächtigte geführt wurden. 1585 trat er von dieser Position endgültig zurück, um die schon erwähnte Jacobe von Baden zu heiraten.
1592 übernahm er dann nach dem Tod seines Vaters die Herrschaft im Düsseldorfer Schloss, freilich nur dem Namen nach: De facto war er in dieser Zeit bereits seelisch so schwer erkrankt, dass an eine Regierungstätigkeit nicht wirklich zu denken war. Ein Zeitgenosse schildert seinen Zustand in einem handschriftlichen Bericht vom Januar 1590 wie folgt:
„Mit dem jungen Fürsten stehts sehr erbärmlich, denn er ist in eine schwere Melancholie gefallen, welches (…) lang ist verhehlt worden, aber nun ist’s viel zu viel an den Tag gekommen. (…)
Den ersten huius (Tag des Monats oder Jahres, hier wahrscheinlich der 1. Januar) stand er ungefähr eine ganze Stunde auf dem Platz vor dem Schloss vor der äußersten Pforte, lehnte sich jetzt auf diese, dann auf die andere Seite, stand auch bisweilen auf einem Beine und sah auch manchmal dergestalt zum Schloß hinein, als wenn er fremd gewesen; welches so erbärmlich anzusehen war, daß vielen gutherzigen Leuten die heißen Zähren (Tränen) über die Wangen liefen. Er ist jetzt 14 Tage nicht aus seinen Kleidern gekommen, legt sich auch mit seiner Wehr (wohl seiner gesamten Rüstung samt Waffen) nieder zu seiner Gattin, (…).
Er (…) isset und trinket wenig, seine Gestalt ist ganz verfallen und siehet scheußlich und wild aus. Seine Gemahlin nimmt sich dessen wenig an, ist ebenso freimütig, als wenn sie das nichts anginge.“
Mit dem letzten Satz versetzt der unbekannte Verfasser im Vorübergehen der Gattin Jacobe noch einen ordentlichen Seitenhieb, was deutlich macht, dass er wohl zur Anti-Jacobe-Fraktion am Hofe gehörte.
Die Ursache dieser ganzen körperlichen und seelischen Jämmerlichkeit Johann Wilhelms war in der Tat das, was man heute eine schwere Depression nennen würde, wofür in jener Zeit der Begriff der „Melancholia“ verwendet wurde. Im Oktober 1589 war bereits ein umfangreiches ärztliches Gutachten zum Zustand des jungen Fürsten erschienen. Verfasst hatte es zusammen mit den Kollegen Lambert Wolf und Galen Weyer der 1559 zum Leibarzt der fürstlichen Familie bestellte Dr. Reiner Solenander – mit bürgerlichem Nachnamen Gathmann, den latinisierten Namen in Anlehnung an lat. „solere“ = „pflegen“ hatte er in seiner Studienzeit angenommen.
„Der Mangel, damit hochgedachter unser gn. F. u. Herr (gnädiger Fürst und Herr) behaftet, ist eine Schwermütigkeit und Melancholie,“ schreibt Solenander. Dieser Mangel hätte zwar körperliche Ursachen, würde aber durch eine unpassende Lebensweise allererst zu Tage gefördert und unterhalten. Die „gegenwärtige Blödigkeit des Gemüts“ führe jedenfalls auch dazu, dass der junge Herr seine Regierungsaufgaben nicht ausführen könne.
Der bedauernswerte Zustand sei ererbt: „Hochgemeldeter Herr, ist von Naturen (…) melancholisch und schwermütig“, er sei „ex paterno semine et materno sanquine (durch väterlichen Samen und mütterliches Blut) hierzu naturiert und geneigt.“ Weiter heißt es: „Denn also vom Herrn Vater gezeugt, ist der H(err) Vater nach langwährenden febribus (Fiebern) (…) noch schwach gewesen und damals eine geschwollene harte Milz gehabt (…) Daß aber solche dispositiones von den Eltern auf die Kinder erben, ist klar (…). Wie er (der Sohn) auch eine Zeit mit einer geschwollenen Milz zu tun gehabt, dadurch (…) das ganze Geblüt verunreinigt und mit vielen groben irdischen Feuchten besudelt, (…).“
Hier bezieht sich der Arzt offensichtlich auf die schon in der Antike von Hippokrates (ca. 460 – 370 v. Chr.), dem Urvater der modernen Medizin, entwickelte und auch zu der Zeit Solenanders noch weit verbreitete medizinische Säftelehre. Dieser Lehre gemäß gibt es vier Körpersäfte: schwarze Galle, gelbe Galle, Schleim und Blut. Die schwarze Galle wird in der Milz gespeichert und abgebaut. Ist sie dazu nicht ausreichend in der Lage, kommt es im Körper zu einem Übermaß an Schwarzgalle, was dann zur Melancholie führt.
Die Melancholie wiederum „hat u.a. zwei Zeichen, (…), als da ist timor (Furcht) und moestitia (Traurigkeit), denn die, die dieser unterworfen, sind für und für furchtsam, still und betrübt; fürchten, da nicht zu fürchten ist, mißtrauen und geben dem Argwohn bälder zu und statt, dann gut ist.“
In einem Maßnahmenpaket, das diesen offensichtlichen Verfolgungswahn bekämpfen soll, sieht Solenander zunächst vor, „daß man gute verständige Leute von den H(erren) Räte und Dienern, (…) bei I. F. Gn. (Ihrer Fürstliche Gnaden) tue, welche den Herren mit Lust frisch halten, vorgedachte suspitiones (Verdächtigungen) und Argwohn abwenden, was schwermütig ist nicht vorbringen, (…)“, kurz und gut, man möge Ärger von ihm fernhalten.
Ferner solle man „dem Herrn mäßige Übung, exerzitia (Übungen) mit Reiten, Stehen, Gehen, ehrliche Kurzweil neben der Musik gebrauchen lassen“, was therapeutisch durchaus modern anmutet. Außerdem sei es dringend angeraten, dass er die Mahlzeiten in Gesellschaft einnehme. Es möge dem Herrn „ohne erhebliche Ursache nicht gestattet noch zugelassen“ werden, dass er sich „des gemeinen (gemeinsamen) Tisches auf der Hofstube enthalten und allein sich wollen speisen lassen, (…)“.
Auf ein gewisses Unverständnis dürfte heute eher das zweite von Solenander empfohlene Therapeutikum stoßen: Kein Sex! Der Fürstensprössling möge nicht weiter „stetige Beiwohnung in einem Gemach cum uxore (mit der Gattin)“ haben, sondern mit „guten Leuten hinausziehe(n), allein, ohne daß Frauenzimmer, damit also die Ursache des stetigen Beiwohnens benommen werde. Dann durch das stetige Beiwohnen der Leib viel geschwächt, alle Kräfte zertrennt, der männlich Samen nicht solange behalten, daß er reif werde und zur Fruchtbarkeit bequem sei.“
Zur Untermauerung dieses Ratschlags zieht der Arzt explizit Hippokrates heran. Durch stetigen Beischlaf werde „das Haupt insonderheit sehr geschwächt, daß auch deswegen Hippokrates alsolchen Handel parvam epilesiam (kleine Epilepsie) (welche capitis morbus (Krankheit des Kopfes, Geisteskrankheit) ist) genannt hat.“
Die dritte Säule im Behandlungsplan bildet, und auch das ist heute noch ein einleuchtender Gedanke, eine angepasste Ernährungsweise. Das folgende Zitat spricht weitgehend für sich selbst, wobei ich es dem Leser überlasse, herauszufinden, wie das Endprodukt wohl gestaltet sein soll, das der Gnädige Herr bei seinem Gang zum Stuhl hinterlassen sollte:
„Auf I.F.Gn. (Ihre Fürstliche Gnaden) Speise und Trank soll gegenwärtiger I.F.Gn. medicus (Arzt) gute Achtung geben, daß sie nicht grob, melancholisch, dann vielmehr linde, sanft, weiche sei, die leicht verzehrt und verdaut werden, den Leib mäßig fuide (nähre), keine oder gar wenig excrementa (Ausscheidungen) nachlasse, den vielmehr ein mäßig warm und natürlich feucht fuitzel (ein Fitzel oder Fitzelchen, ein bisschen) gebe, (…).“
Hier einmal das Druckbild im Original:
Konkret aufs Frühstück gewendet, heißt das z.B.: „Wie auch gegenwärtiger medicus sich befleißen woll, ob er hochgedachten Herrn des Morgens statt seiner Morgensuppen einen Trunk süßer lieblicher Milch beibringen könnte (da der Magen die anders erleiden kann), (…).“ Weiter: „Denn die Milch wird leicht verdaut, fuidet (nährt) bald, gibt feuchte natürliche fuitzel – die hatten wir ja schon – (…), wie auch dadurch der Schlaf bequemer und der Stuhl gefördert wird.“
Auf Arzneien wird weitgehend verzichtet, aber Solenander empfiehlt den Verzehr von Mandelmilch, Mohn, der wohl den Schlaf fördern soll, und „Manus Christi perlati“ (Christushand mit Perlmutt), feine Zuckerküchlein, die in einem medizinischen Lexikon von 1772 wie folgt beschrieben werden: „ (Es) sind weiße Küchlein oder Zeltlein, wie die weißen Kraftküchlein, die von Zucker mit Rosenwasser aufgelößt, und mit etwas zerriebener präparierter Perlenmutter vermischt gemacht werden: man nimmt sie manchmal unter stärkende und kühlende Pulver, und Milchen von Saamen.“
Zum Nachkochen hier ein Rezept, das mit Blattgold statt Perlmutt arbeitet, sozusagen eine an den gehobenen Düsseldorfer Geschmack angepasste Version (freilich auf Englisch, auf Deutsch ließ sich nichts finden):https://alysten.wordpress.com/2012/02/01/kqas-2012-manus-christi/
Gesellschaftliche Aktivitäten, sexuelle Enthaltsamkeit und eine Umstellung der Ernährung, das also waren die Rezepte, welche die schweren Depressionen des fürstlichen Thronfolgers wenn nicht heilen, so doch wenigstens mildern sollten. All die Bemühungen, in die sich auch noch allerlei obskure Heilversuche von anderer Seite wie Exorzismen usw. mischten, waren wohl mehr oder weniger vergebens, aber immerhin war der Gesundheitszustand des unglücklichen Johann Wilhelm 1599 offenbar soweit wiederhergestellt, dass er mit Antonie von Lothringen seine zweite Ehe eingehen konnte, die freilich wiederum kinderlos blieb.
Damit war das jülich-klevische Geschlecht ausgestorben, der Besitz Wilhelms des Reichen wurde aufgeteilt. Die neuen Herrscher in Düsseldorf, eine Seitenlinie der Wittelsbacher, kamen aus Pfalz-Neuburg in Bayern und übernahmen 1614 das Regiment über die Herzogtümer Jülich und Berg. Dieser Dynastie entspross 1658 der glückliche Johann Wilhelm, der sich dann 1711 vor dem Rathaus selbst das berühmte Denkmal setzte.
© Dr. Peter Hachenberg, 11.02.2021
Ein Update dieses Beitrages finden Sie auf der Blogseite von Dr. Peter Hachenberg https://duesseldorfgeschichte.com/
Weitere Artikel zur Stadtgeschichte beim Lokalbüro finden Sie unter:
https://www.lokalbuero.com/2020/08/30/eine-kurze-geschichte-der-lambertuskirche/
https://www.lokalbuero.com/2020/10/20/jan-wellem-der-knabe/
Quellen und Abbildungen:
Bericht über den Zustand des Jungherzogs Johann Wilhelm, 18. Januar 1590 (abgedruckt: ZBGV Bd. 23/1887, S. 11f.)
Ärztliches Gutachten über die Krankheit des Jungherzogs Johann Wilhelm, 1589 (abgedruckt: Düsseldorfer Jahrbuch Bd 37/1932–33, S. 135 ff.)
Beide in: Ernst Hugenbeck, Dokumentation zur Geschichte der Stadt Düsseldorf Bd. 8, Düsseldorf in der Reformationszeit 1510 – 1609, Quellensammlung, hrg. Pädagogisches Institut der Landeshauptstadt Düsseldorf, 1986)
Nutzung mit freundlicher Genehmigung des Schulverwaltungsamtes der Stadt Düsseldorf
Ein besonderer Dank dem Stadtmuseum Düsseldorf
https://www.duesseldorf.de/stadtmuseum
für die Überlassung des Fotos des Gemäldes Johann Wilhelms I. sowie des Modells des Düsseldorfer Schlosses um 1585. Das Stadtmuseum besitzt eine hervorragende Sammlung von Gemälden und Objekten, besonders auch der jülich-klevischen (Johann Wilhelm I) und der nachfolgenden kurfürstlich-wittelsbachischen Epoche (Jan Wellem). Ein Besuch online ist möglich mit einem wunderbar gestalteten virtuellen 3D-Rundgang:
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