Professor für Phantasie
Arbeiterkind aus der österreichischen Provinz, studierter Grafiker, geborener Clown Zippo, berufener Circusdirektor, Reiseleiter auf der Reise zum Regenbogen, Hüter längst verloren geglaubter Schätze, Doktor der Poesie, Professor für Phantasie: Bernhard Paul blickt an seinem heutigen 75. Geburtstag (20. Mai 2022) mit Stolz auf sein Lebenswerk Roncalli, das weit mehr ist als ein Circus und reisendes Theater der Träume. Denn sein Gesamtkunstwerk ist stets „Ein sanfter Kuss auf die Seele“. Für den vielseitigen Künstler und Menschen ein Anlass also zum Feiern mit seiner Circus-Familie. Kein Anlass jedoch, jetzt in Manegenrente zu gehen. Die Welt rund ums Zelt bleibt sein Lebenselixier, bis zum Grande Finale ist es noch lange hin. Im Prinzip bleibt’s immer Roncalli.
„Ich bin einer von den Unkaputtbaren. Kreativität und Kunst kennen kein Alter. Picasso malte noch mit 90 Jahren und unser Schutzheiliger Charlie Chaplin machte noch mit weit über 80 Jahren Filme. Udo Lindenberg und der Rolling Stones Gitarrist Ron Wood sind so alt sind wie ich und auch noch schwer aktiv. Uns alle beflügelt halt dieser Rock and Roll des Lebens“, sagt Bernhard Paul. Leidenschaft und Lust sind die Zutaten solcher Erfolgsrezepte. Paul weiß aber auch, dass manche gute Idee ohne bodenständige Zähigkeit und einen eisernen Wille schnell zum Drahtseilakt werden kann. „Dazu muss man besessen sein von seiner Idee, seinen Visionen, seinen Wünschen. Vor allem aber muss man lieben, was man tut.“ Dann kann man, wie einst die New York Times befand, den „schönsten Circus der Welt“ erfinden, gründen und bis heute mit ungebrochenem Erfolg führen.
Vielleicht gelang das dem „Liebling der Götter“, wie ihn einmal die größte deutsche Künstleragentin titulierte, eben weil er überhaupt nicht einer Circusfamilie entstammte. Im kleinen Wilhelmsburg in Niederösterreich wuchs er als Sohn eines Fabrikarbeiters auf. Schwarz-Weiß der Alltag – aber wenn der Circus hier sein Zelt aufschlug, kam Farbe in das Leben des Jungen! Nahezu depressiv die Zeiten, wenn die Gauklerschar einpackte und weiterzog. Diese Sehnsucht, dieses Fernweh! Und die Erkenntnis, dass es einen Mikrokosmos gibt, in dem man so leben kann, wie man ist, wie man aussieht, wie man sein mag. In den 1950er Jahren für einen jungen Menschen mit einem Gesicht voller Sommersprossen, feuerrotem Schopf und vielen Flausen im Kopf die Inkarnation von Paradies!
Die Geschichte des Bernhard Paul weiß, dass er sich zwar von den Fesseln der Kleinstadt befreite, aber fern vom geliebten Thema der Zauberwelten ganz profan Hoch- und Tiefbau, dann Grafik studierte. Dass er Art Director bei einem großen Magazin in Wien wurde, die wunderbare, vor Kreativität nur so flirrende Aufbruchstimmung der 1970-er in vollen Zügen genoss… und am Reißbrett (denn damals gab es noch keine Animationsprogramme, geschweige denn einen Rechner) mit seiner unvergleichlichen zeichnerischen Begabung aus eigenen Händen einen so wunderschönen Circus erstehen ließ, wie es ihn selbst in den besten Zeiten dieses Genres nie gegeben hatte. Als Roncalli dann 1976 Wirklichkeit wurde, hauchte Paul der jahrhundertealten, aber längst in die Jahre gekommenen Kulturform Circus neues Leben ein. Traumsequenzen und schillernde Bilder, anrührende Musik und eine Atmosphäre berstend von Poesie: Emotionen ersetzten bei Roncalli das altbekannte „Menschen, Tiere, Sensationen“. Der Circus bekam eine gute, zarte Seele.
Roncalli wurde im Laufe der Jahre so, wie sich ihn sich der größte Liebhaber des Circus gewünscht hatte. Denn zur Geschichte von Bernhard Paul gehört auch, dass er es nicht immer leicht hatte in den ersten Jahren mit seinem circensischen Start-up. Aber es wurde Circus, und was für einer!
Roncalli wurde nicht nur eine Augenweide mit allen den historischen Wagen, die sogar Blattgold tragen. Mit Zuckerbäckerschnörkeleien, mit rotem Samt und Gold und noch mehr Gold. Mit prachtvollen Logen wie aus der Mailänder Scala…. In dieser Wunderwelt vereinten sich von Anfang an längst totgeglaubte wie auch längst noch nicht vom Circus anerkannte Künste und Künstler zu einer Zeitreise zwischen Gestern und Morgen. „Roncalli über Alli“ schrieb ihm ein begeisterter „Spiegel“-Chef Rudolf Augstein ins Gästebuch. Vom „Erneuerer der Zirkuskunst“ schwärmte „Die Zeit“. Das Publikum war fassungslos, stand stundenlang Schlange, der Circus gastierte oft monatelang am selben Ort und war zweimal am Tag und das täglich ausverkauft!
Roncalli war anders. In dieser umjubelten Anfangszeit pustete ein junger Traumtänzer namens Pic mit all der Sanftheit eines schweizerischen Beau Seifenblasen in die Seelen. Und niemand schämte sich seiner Tränen der Rührung! Ein von der Flosse an in grünes Glitzer gewandeter Froschmann (längst nicht mehr der Jüngste) ergab sich in unglaubliche Verrenkungen, es paradierte die Gräfin von Lipizza (mit Verlaub auch nicht mehr die Jüngste) auf einem prachtvollen Ross durch die Manege. Vor allem aber feierte das Genre der Clownerie fröhliche Urständ im roten Rund, weil aus dem Grafiker, dem Circusgründer, dem Geldbesorger, dem sich um Geld Sorgenden und dem Circusdirektor Bernhard Paul nun der Clown Zippo geworden war. Ein Naturtalent beileibe nicht nur wegen der wallenden roten Haarpracht oder der in jeder Sekunde fühlbaren Freude am Spaßmachen, gesegnet mit den besten Partnern, die er sich wünschen konnte und die seinem Ruf in das damals noch aus Baumwolle bestehende Zelt folgten.
Man könnte Bernhard Paul als „Menschensammler“ von Wien (und seit seit 1980 von Köln) bezeichnen, will man seine unnachahmliche Art und Begabung beschreiben, wie es ihm über die Jahrzehnte gelang, seinen Roncalli immer wieder ein Stück neu zu erfinden, indem er Artisten, Bühnenkünstler und Talente von der Straße einsammelte. Wer hier als „Nummer“ ankam, reiste später (oft nach vielen Jahren wundervollen gemeinsamen Schaffens) als echter „Roncalli-Act“ wieder ab. Eine Metamorphose, der sich bis heute jeder und jede gern unterzieht. Nur die richtige Dramaturgie, das perfekte Kostüm, die passende Musik und das korrekte Timing sowie eine Prise Goödstaubaus der Hand des Prinzipals machen aus einer Nummer eben Roncalli-Weltklasse. Warb nach dem fulminanten Starterfolg von Roncalli seinerzeit auch mancher Mitbewerber gern mit dem Plakataufkleber „Jetzt auch mit Poesie“, adelt heute eine Roncalli-Regie, eine Darbietung made by Roncalli jede Show.
So wurde Pauls Prinzips auch schnell zum Vorbild für Circusmacher aus der ganzen Welt, der „Roncalli-Stil“ zum vielkopierten Erscheinungsbild unzähliger Circusunternehmen von Madrid bis Montreal, von Paris bis Peking, von Brüssel bis Brasilia. Die Wellen, die Roncalli schlug, gingen um die ganze Welt.
Das Kostbare der Klassik bewahren und dabei mit wachem Auge schon die Moderne einzufangen, ist oft ein Spagat. Bernhard Paul bewegt sich gern zwischen Genres und Generationen. Er band schon Beatboxer und Figurentheater wie „Mummenschanz“ in seine Inszenierungen ein, dazu unterschiedlichste Komiker mit einer Range vom berühmtesten Weißclown Francesco Caroli (+) bis zum freakigen „Father of Fools“ Jango Edward.
Inzwischen hat ein Roboter hier eine neue Zeitrechnung eröffnet und anstelle lebender Tiere erfreuen holografisch erzeugte Exoten das Publikum. Jongleure, Flieger in schwindelnder Höhe und Kraftakte fehlen freilich ebenso wenig wie immer wieder eine muntere Schar von Clowns. „In eine solche Welt mit ihren unterschiedlichsten Bildern und kleinen wie großen Sensationen für Herz und Seele tauchen alle Menschen gern ein.
Ein Circus Theater wie Roncalli nimmt das Kleinkind wie die Urgroßmutter, den Arbeiter wie den Akademiker gleichermaßen mit auf die Reise in die Phantasie“, weiß Paul.
Vielleicht ein Grund mehr, warum das legendäre Max-Reinhardt-Seminar in Wien den berühmtesten Circusdirektor zum Professor berief. Zahlreiche weitere Auszeichnungen wie beispielsweise das Bundesverdienstkreuz am Bande, das Goldene Verdienstzeichen des Landes Wien oder der Staatspreis des Landes NRW würdigten das Wirken Pauls.
Als Koryphäe für alles, was Circus erst richtig schön macht, gilt der Wahl-Kölner ohnehin seit langem. Doch nicht nur das. Roncalli ist längst mehr. So machte Bernhard Paul das Varieté in Deutschland wieder lebendig – 1992 war er Mitbegründer des legendären „Wintergarten“ in Berlin, es folgten das Friedrichsbau-Varieté in Stuttgart und 1997 das Apollo in Düsseldorf, das in diesem Jahr 25 wird. Bis heute von Roncalli betrieben, ist es seit vielen Jahren beliebte Destinationen für Live-Unterhaltung der Spitzenklasse. Paul gilt auch als Erfinder der bis heute erfolgreichen Dinner-Shows, einer Mischung aus Circuskunst und kulinarischen Köstlichkeiten in historischen Spiegelzelten, seitdem 1990 mit „Roncalli’s Panem et Circenses“ das erste Etablissement dieser Art seine Weltpremiere erlebte. Filme („Die dumme Augustine“, „Träume eines Clowns“), Fernsehserien und Buchprojekte sind ebenso Projekte von Paul wie unzählige Shows im In- und Ausland, die seine Handschrift tragen. Nur einige seien hier genannt: „Clowns“ im Ronacher Wien und der freien Volksbühne Berlin, dutzende „Circus meets Classic“ Inszenierungen in den Konzertsälen der Republik, die HÖHNER ROCKIN RONCALLI SHOW oder die Mozarts „Zauberflöte“ gemeinsam mit George Tabori in Berlin. „Roncalli für Alli“ mag auch gelten, wenn es um den berühmten Historischen Weihnachtsmarkt auf dem Hamburger Rathausplatz geht, mit dem das Unternehmen seit 2000 jedes Jahr in der Adventszeit zwei Millionen Besucher anlockt.
Der kleine Bub aus der österreichischen Provinz hatte einst einen Traum. Der erwachsene Grafiker aus der Sisi-Metropole hatte eine Vision… Bernhard Paul kann an seinem 75. Geburtstag mit Freude zurückschauen. Und voller Zuversicht nach vorn. Seine drei Kinder Vivien, Adrian und Lili treten in seine Fußstapfen, alle mit den Talenten von Mutter Eliana, einer Circusartistin, und des Vaters gesegnet. Viele Ideen hat er umgesetzt, viele Missionen erfüllt. Eine fehlt auf jeden Fall noch: der leidenschaftliche Bewahrer von Circuspretiosen – er besitzt den Nachlass des berühmten Clown Grock ebenso wie eine der weltweit größten Sammlungen wertvoller Circusplakate — und darüber hinaus wunderschönen Dingen wie historischen Ladeneinrichtungen und Jahrmarktattraktionen der Jahrhundertwende, träumt noch immer davon, dies alles der Öffentlichkeit in einem Museum zugänglich zu machen. Jetzt soll dieser „Boulevard of broken Dreams“ endlich Wirklichkeit werden. Vielleicht sein schönstes Geburtstagsgeschenk…